Raimunds Wecker läutet wie abgemacht um 6:30 Uhr. Bis wir dann aber ernsthaft ans aufstehen denken ist es bereits 8:15 Uhr. So wichtig ist das aber auch wieder nicht, denn es stehen heute keine grösseren Furten auf dem Programm. Wir wollen einfach so weit kommen, dass wir morgen bis um 15 Uhr die Ringstrasse erreichen können. Der Himmel ist weiterhin strahlend blau und aus Nordost bläst immer noch der gleiche starke Wind, wie in dem letzten Tagen. Zum Glück haben wir ihn meist genau im Rücken. So stört er nicht gross.
Um 10 Uhr gehts dann gleich in den ‚Badelatschen‘ los, denn die erste Furt ist ja keine 100 m entfernt, also gleich um die Ecke. Die Mið-Bergvatnsá stellt, wie bereits gestern festgestellt, kein ernsthaftes Hindernis dar. Zudem der Pegel, wie wir an unserem gestern Abend ausgelegten Stein feststellen können, um gut 15 cm zurückgegangen ist. Mit trockenen Füssen und in den Wanderschuhen gehts dann gleich bergauf. Wir wechseln in südwestlicher Richtung ins Tal der Vestri-Bergvatnsá, dem sogenannten Beinadalur. Vor dem Hauptarm steht uns noch ein Nebenarm im Weg. Dieser ist sieht zwar völlig harmlos aus, ist aber doch so breit und tief, dass ein Schuhwechsel nötig wird. Danach queren wir gleich in Unterhosen und Sandalen (zum Glück sieht uns hier niemand ;-)) ein kleines Lavafeld hinüber zum Hauptarm. Dieser führt zumindest zur Zeit viel mehr Wasser als die Mið-Bergvatnsá, ist aber trotzdem noch problemlos zu furten.
Nach einer kurzen Pause gehen wir nun in westlicher Richtung weiter. Ein Pass führt in das nächste Tal, den Langagil. Im Aufstieg stehen wir dann plötzlich vor einer tiefen Schlucht, die auf der Karte so nicht zu erkennen war. Eine Umgehung erscheint uns zu weit. Nach kurzer Suche finden wir zum Glück ein Schneefeld, auf dem wir hinunter und über den Bach kommen. Auf der anderen Seite führt ein steiles Geröllfeld aus der Schlucht hinaus. Je mehr wir uns dem Pass nähern desto sandiger wird der Untergrund. Immer grössere Flächen sind nun völlig vegetationslos. Da im Laufe des Tages der Wind immer stärker geworden ist, werden wir nun immer wieder von Staubwolken eingehüllt. Manchmal wähnt man sich fast in einem Sandsturm. Vom Pass aus sehen wir, dass über dem Langagil eine riesige Staubwolke hängt. So entscheiden wir hier hinter einer Kuppe Mittagsrast zu machen. Gleich daneben fliesst auch ein Bächlein. So haben wir ja neben Windschutz auch gleich noch frisches Wasser — meinen wir zumindest. Der vermeintliche Windschutz taugt überhaupt nichts und das Wasser stellt sich als mit Sand und Algen versetzt heraus. Wir taxieren es als nur im Notfall trinkbar. Aber wir haben ja noch genug Wasser dabei. So muss Raimund auch nicht heute auf seine tägliche Mittagssuppe verzichten. Ich ziehe es vor mich rein ‚trocken‘ zu verpflegen. Nach dem Essen machen wir eine kurze Siesta, denn es ist, trotz des immer noch starken Windes, in der Sonne angenehm war. Wenn nur der ständige feine Sand in den Augen und zwischen den Zähnen nicht wäre. Es ist fast noch schlimmer als der sandige Zeltplatz von vorgestern Nacht. Während dem Abstieg zum Langagil lässt der starke Wind rasch nach. Nun wirbeln nur noch von Zeit zu Zeit einzelne Windböen Sand auf. So ist das Gehen wieder viel angenehmer. Nachdem es für ein paar Minuten überhaupt nicht mehr gewindet hat, bläst uns plotzlich ein kühler Wind aus Süden ins Gesicht. Die Windrichtung hat sich innert kurzer Zeit gedreht. Nach zirka 2 km verengt sich das breite Tal des Langagils zu einer unbegehbaren Schlucht. Diese muss über den südostseitigen Berghang umgangen werden. Erneut stehen wir unvermittlet vor einer steilen Schlucht. Auch diese ist auf der Karte nicht als solche zu erkennen. Wir sehen zwar überraschenderweise Fussspuren, können aber vorerst nicht herausfinden wo sie hinführen. Nach kurzer Suche finden wir eine steile Schutthalde, bis zum Bachbett hinunter begehbar ist. Mitten im Hang treffen wir auch wieder auf vereinzelte Fussspuren. Also scheinen wir richtig zu sein. Unten angekommen sind zwei Bäche zu furten. Für die Füsse ist die Abkühlung im kalten Wasser eine Wohltat. Auf der Karte ist allerdings nur ein Bach eingezeichnet. Wir sind verwirrt. Wir sind zweifellos auf dem richtigen Weg, haben aber keine Ahnung wie wir aus der Schlucht zur Djupá, einem der Hauptabflüsse des Siðujökulls, hinüberkommen. Nach einer längeren Suchaktion kommen wir zum Schluss, dass wir nur über eine sehr steile, zirka 50 m hohen Grashalde hinauskommen. Der Aufstieg ist eine richtige Plackerei. Oben angekommen merken wir aber sofort, dass sich die Anstrengung
gelohnt hat. Wir haben den richtigen Hügelrücken erwischt. Hier können wir zur Djupá hinüberqueren. Schon von weitem hört man den tosenden Gletscherfluss und kurze Zeit später können wir ihn auch sehen. Für heute haben wir alle bekannten und unbekannten Schlüsselstellen hinter uns.

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Es ist geschafft. Vom Bergrücken können wir in das Tal der Djupá hinunterschauen.

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Blick nach Nordwesten: im Hintergrund rechts die Hágöngur, links der Siðujökull

Hinter der Djupá breitet sich der Siðujökull aus, auf dem wir im letzten Jahr drei Nächte im Sturm verbracht haben. Nun haben wir noch gut 4 km entlang der Djupá bis zum ins Auge gefassten Zeltplatz vor uns. Dies wird zunehmend zu einer Überwindungssache, denn der Tag hinterlässt mehr und mehr seine Spuren. Von Süden her kommen plötzlich einzelne Nebelschwaden das Tal der Djupá herauf. Die Orientierung wird dadurch schwieriger. Die Momente mit guter Sicht reichen aber um problemlos weiterzukommen. Kurz vor dem Ziel müssen wir nochmals auf einen Bergrücken ausweichen, da das aktuelle Flussbett der Djuá ganz nahe am östlichen Talrand verläuft. Zuletzt stehen wir unverhofft an einer letzten Furt. Gleich in den Sandalen gehen wir noch 150 m bis zum Zeltplatz. Heute haben wir 19,7 km zurückgelegt.
Kurz nach 20 Uhr steht das Zelt, danach gibts das Nachtessen. Ein paar hundert Meter unter uns steht eine Nebelwand, die von der Küste heraufdrückt. Das sieht toll aus. Zeitweise steigt der Nebel bis zu uns herauf und hüllt alles in einen weissen Schleier ein. Ein paar Minuten später ist der Nebel jeweils wieder weg und die Sicht klar. Nach einem Kaffee gönnen wir uns noch einen Blick auf die Djupá, die sich kaum 50 m neben unserem Zelt durch eine enge Schlucht zwängt. Raimund will gleich wieder furten, ich bin von diesem Spektakel einfach nur fasziniert. Um 22 Uhr ist dann ‚Lichterlöschen‘. Morgen müssen wir wirklich früh raus. 😉

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Eine Wolkenwand schiebt sich von der Küstenregion das Tal der Djupá herauf

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Das Panorama von unserem Zeltplatz aus in Richtung Nordost